Dieser Tag musste kommen: Meine Mama und ich haben scheinbar unüberwindbare Differenzen und schuld daran sind ausgerechnet unsere Gefühle füreinander. Sie fühlt sich allein gelassen, weil ihre Tochter ihr eigenes Leben führt  – und ich als Mutter kann das sogar verstehen. Über die Liebe, das Erwachsenenwerden und die damit verbundenen Verlustängste.

Es ist der Klassiker: Die Eltern leben 400 Kilometer entfernt in einem idyllischen kleinen Ort, der sich Heimat nennt, und haben Sehnsucht. Vor allem meine Mutter hat Sehnsucht  – nach der großen weiten Welt, in die sie mich entlassen hat, damit ich das Leben führen kann, das sie sich immer für mich gewünscht hat. Der Abnabelungsprozess verlief relativ schmerzfrei, was meiner Meinung nach hauptsächlich daran lag, dass meine Eltern noch auf ein “Ersatzkind” zurückgreifen konnten, meine 15 Jahre jüngere Schwester.

Mit meinem Weggang von zu Hause kam man wunderbar zurecht – man konnte das Kind in der Großstadt besuchen, ihm beim Einrichten der ersten eigenen Wohnung helfen. Man wurde gebraucht, auch auf die Distanz. Fast täglich klingelte das Telefon, die Tochter war dran und wollte von Mama wissen, wie man einen Käsekuchen backt, wie Oma früher Sauerampfer angepflanzt hat, welcher Staubsauger bei Tests am besten abgeschnitten hat und wie man den Kühlschrank richtig abtaut. Mama war Ansprechpartnerin Nummer eins bei Haushaltsfragen, Liebeskummer, Urlaubsplanung und persönlichen Belangen in Sachen beruflicher Weiterentwicklung. Sie war das Vorbild, dem man Superhelden-Kräfte zugesprochen hat ob dem unanfechtbaren Talent, Familie und Job unter einen Hut zu kriegen.

Mama, der Fels in der Brandung

Viele Entscheidungen in meinem Leben beruhen ausschließlich auf der Art und Weise meiner Erziehung und dem, was meine Mutter mir vorgelebt hat. Ich habe sie stets als unglaublich starke Frau erlebt, die es alles andere als leicht hatte in ihrem Leben, privat wie beruflich, damals wie heute. Das machte sie für mich zu einer Lichtgestalt, die später gefälligst stolz auf mich sein sollte. Das hat geklappt. Ich wollte alles erreichen, was auch sie erreicht hatte, und ihr zeigen, wie glücklich ich dank ihr sein konnte und durfte. Mein Mann, meine Tochter und mein Chef können bestätigen: Auch das hat geklappt.

Ich bin erwachsen geworden, habe dazugelernt und meine Fragestunden an Mama daher zurückgeschraubt. Gerade deshalb haben Mama und ich aber nun ein Problem: Es harmoniert nicht recht. Frau Mutter wirkt ein wenig angespannt und unzufrieden. Die täglichen Telefonate werden oftmals ersetzt durch kurze WhatsApp-Nachrichten und sprechen wir dann doch miteinander, ist der Ton schon fast ein wenig vorwurfsvoll. Ich würde mich nicht mehr für meine Familie interessieren, weil ich nicht mehr alle drei Wochen gen Heimat fahre, sondern nur noch alle sechs Wochen. Ich würde meinen Eltern die Enkeltochter vorenthalten, wenn ich nie zu Besuch komme, wenngleich meine Eltern uns sehr wohl mehrmals im Jahr besuchen und sie zudem beinahe täglich mit meiner Kleinen facetimen.

Verständnis für das Selbstverständliche

Die Wahrnehmung scheint verschoben, ich komme ungerechtfertigter Weise in Erklärungsnot. Schon wollte ich mich darüber aufregen, dass dieses Verhalten die Lust auf noch mehr Familie als meine eigene kleine nicht gerade schüre, da fiel es mir wie Schuppen von den Augen:

Meine Eltern haben Sehnsucht. Vor allem meine Mutter hat Sehnsucht  – nach der großen weiten Welt, in die sie mich entlassen hat, damit ich das Leben führen kann, das sie sich immer für mich gewünscht hat. Der Abnabelungsprozess war für sie damals sehr wohl schmerzhaft und recht erholt hat sie sich davon nie, dass ihre Älteste das Haus verlassen hat. Jahre später hat sie sich damit getröstet, dass sie noch das “Ersatzkind” hat, doch das macht nun seinen Schulabschluss, unternimmt viel mit Freunden, ist selbst kaum noch zu Hause. Die Kinder sind weg, Mama wird nicht mehr gebraucht. Wie konnte ich übersehen, dass es das ist, was unsere Beziehung in letzter Zeit so strapaziert hat? Gerade ich, die bereits Trennungsschmerz empfindet, wenn sie das Baby abends ins Bett bringt, hätte darauf kommen können, dass es Verlustängste sind, unter denen Frau Mutter so sehr leidet.

Mama, wir verlassen dich nicht, wir werden nur erwachsen

Aber Mama, du verlierst uns nicht! Wir lieben dich und bleiben deine Mädchen – über Generationen hinweg. Wir verbringen wahnsinnig gern Zeit mit dir, lachen mit dir und schätzen deinen Rat. Du bist unser ausgelagertes Gehirn und gleichzeitig unsere beste Freundin. Du bist Familienratgeber und Genealogie, Berufsberatung und Therapeutin für uns. Und wenn ich dich mal nicht zu Rate ziehe, dann deshalb, weil ich tue, was du uns beigebracht hast: Selbstständig Entscheidungen treffen. Das heißt nicht, dass wir mit dir immer einer Meinung sein müssen – doch wir könnten, und darin besteht der Reichtum unserer Beziehung.

Wir machen Fehler und lernen aus denen des anderen. Und selbst wenn wir streiten, versöhnen wir uns schnell wieder, indem wir uns vor Augen führen, dass sich die Geschichte wiederholt – nur eine Generation später. Du kennst das Spiel und seine Regeln bereits, du hattest eine Mutter, die uns allen nicht ganz unähnlich war. Drum sei dir gewiss: Das, was wir haben, das endet nicht, nur weil wir Kinder weiter erwachsen werden. Erinnere mich bitte in einigen Jahren an meine Worte, wenn ich dich anrufe, weil meine Tochter beschlossen hat, nach der Schule in die große weite Welt zu ziehen.

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